Ein Bild - Eine Geschichte
Der verschwundene Junge

Nicklas konnte die Eisdiele schon sehen. Das Schild mit dem Eisbecher darauf, das über der Tür hing, die Stühle, Tische und Schirme, die davor auf dem breiten Gehweg standen. Er ignorierte das Stechen in der Seite, es war nicht mehr weit. Dieses eine Mal würde er gewinnen. Er hatte geübt und heute würde er schneller als Daniel sein. Dann würde der ihm ein Eis kaufen müssen. Abgemacht war abgemacht.
Er hörte Daniel dicht hinter ihm keuchen, ihre Füße trommelten auf den Boden, dann packte ihn eine Hand am Ärmel, er kam aus dem Rhythmus. Daniel war neben ihm, grinste ihn an.
„Das ist geschummelt!“, brachte Nicklas keuchend hervor und versuchte nun seinerseits, Daniel am Ärmel zu packen und festzuhalten. Der lachte, riss sich los und gab Nicklas einen Schubs in die Seite. Nicklas stolperte in einen Stapel Kartons vor dem alten Secondhandladen. Einige kippten um und gebrauchte Bücher verteilten sich über den Gehweg.
Daniel packte ihn am Arm und zog ihn hoch. „Schnell weg!“
Nicklas schüttelte ihn ab. Das gehörte sich nicht. Er stellte den ersten Karton wieder auf. Daniel zögerte kurz, dann lief er davon. Nicklas sah ihm kurz nach und packte dann die Bücher zurück in den Karton. Wenn Daniel glaubte, dass er ihm heute ein Eis kaufte, dann konnte er das vergessen. Hätte er ihn nicht am Ärmel gezogen, dann hätte er heute gewonnen, dessen war er sich sicher.
Er brauchte nicht lange, um alles in Ordnung zu bringen. Er legte gerade die letzten Bücher zurück, als er stockte. Er hielt einen Krimi in der Hand. Der Titel war ‚Der verschwundene Junge‘ und auf dem Cover war sein Bild. Nicklas schluckte. Wie konnte das sein? Dem Jungen auf dem Bild klebte zwar Klebeband über dem Mund und Blut lief ihm aus der Nase und von der Augenbraue herunter, aber das war eindeutig er.
Er Schatten fiel auf ihn. Erschrocken zuckte Nicklas zusammen und ließ das Buch fallen. Der Besitzer des Ladens war vor die Tür getreten und bückte sich nun rasch, um das Buch aufzuheben. Nicklas war wie gelähmt. Er wollte weglaufen, doch seine Beine schienen sich in Pudding verwandelt zu haben. Wenn er versuchen würde zu laufen, würde er schlichtweg zurück in die Kisten fallen.
Der Ladenbesitzer sah auf das Buch, dann warf er Nicklas einen Blick zu und lächelte. Bosheit blitzte in seinen Augen auf und Nicklas lief es kalt den Rücken hinunter. Leben kam in ihn, doch bevor er weglaufen konnte, hatte der Mann ihn am Arm gepackt und zog ihn mit sich in den Laden.
„Lassen Sie mich los!“ Nicklas wehrte sich, wand sich, schlug auf den Mann ein. Niemand war im Laden, der ihm helfen konnte, und der Mann war viel stärker als er. Er schubste Nicklas in den Lagerraum und stieß ihn auf einen Stuhl.
Nicklas‘ Atem ging stoßweise. Seine Gedanken rasten. Was sollte er jetzt tun? „Was wollen Sie von mir?“, brachte er hervor. Seine Stimme klang schrecklich dünn und verängstigt in seinen Ohren.
„Es ist immer toll, wenn meine Geschichten wahr werden.“ Der Mann hielt das Buch hoch und lächelte breit. Das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Soll ich dir diese vorlesen?“
Nicklas sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, ohne den Kopf zu bewegen. Der einzige Weg führte an dem Mann vorbei durch die Tür und durch den Laden hinaus. Nicklas schluckte und nickte dann.
Nun erreichte das Lächeln des Mannes auch seine Augen und er schlug das Buch auf. Sobald er den Blick senkte, sprang Nicklas auf, rannte an ihm vorbei aus dem Laden auf die belebte Einkaufsstraße. Er sah sich nicht um, hörte nicht auf das „He! Bleib stehen!“. Er blieb nicht stehen, bis er das Haus erreichte, in dem er mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester wohnte.
Erschöpft lehnte er sich an die Tür und schnappte nach Luft. Während er den Schlüssel ins Schloss steckte, sah er sich noch einmal um, doch die Straße hinter ihm war fast leer. Die Nachbarin führte ihren Hund Gassi. Von dem unheimlichen Mann war nichts zu sehen.
Er hörte seine Mutter schon im Treppenhaus. Sie hatte wieder Stress mit seiner Schwester. Als er in die Wohnung schlüpfte, lag Lena gerade schreiend auf dem Boden im Flur. Anscheinend wollte sie ihre Winterjacke anziehen, obwohl es nun wirklich zu warm dafür war. Nun, er konnte die Geschichte auch ein anderes Mal seiner Mutter erzählen.

Abends lag Nicklas noch wach im Bett. Beim Abendbrot hatte es wieder Theater gegeben, weil Lena auf einmal Salami nicht mehr mochte. Er hatte seiner Mutter die Erschöpfung angesehen und sie nicht mit seiner Geschichte belastet. Doch er wurde sie nicht los. Sein Herz fing immer noch heftig zu klopfen an, bei den Gedanken an das Erlebte. Wäre er doch nur mit Daniel davongelaufen.
Plötzlich legte sich eine Hand auf seinen Mund. Er erstarrte.
„Es war sehr unhöflich von dir, einfach so wegzulaufen, weißt du?“, flüsterte ihm die heisere Stimme des Ladenbesitzers ins Ohr.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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